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20.07.2007

Diogenes und Alexander

Diogenes und Alexander

Diogenes der Hund saß in Korinth vor seiner Tonne und blickte in den strahlenden Tag. Da kam zu ihm Alexander, König von Makedonien, seit eben Oberbefehlshaber aller Truppen Griechenlands, bald Schah von Persien, Pharao von Ägypten, Herrscher fast der gesamten bekannten Welt, der mächtigste Mensch, der je gelebt hatte, und sprach zum Philosophen, was immer er sich wünsche, was immer, er, Alexander, werde es für ihn erfüllen.

"Geh mir nur", antwortete dieser, "ein wenig aus der Sonne."

Und Alexander, fast die gleiche Größe wie sein Gegenüber beweisend, rief, wahrlich, wäre er nicht Alexander, er wollte wohl Diogenes sein, Diogenes in der Tonne.

Ich habe, in diesem Zusammenhang, diesen enttäuschend schlechten Artikel vom sonst eigentlich recht verlässlichen Adam Soboczynski gelesen und mich des studiVZ-Aufruhrs erinnert und nochmal an Ariadne von Schirach gedacht und dass sie tatsächlich interessant zu finden scheint, was in Paris Hiltons Sexvideo passiert, das aber trotzdem ihre Karriere gestartet hat, und ich habe diesen meinen Eintrag wiedergelesen und diese tolle Story im Web gefunden, angelsächsische Journalisten merken einfach früher, wohin der Hase läuft, weil sie ihn im Gegensatz zu den geistes- und körperverfetteten deutschen Schanden ihrer Zunft noch selbst jagen können.

Und, im Bergwerk meines Blogs, im tiefsten Schacht des Internets, ruhend über meine Spitzhacke gebeugt, streichend durch meinen Bart in Gedanken, flackernd die Kerze auf meinem Helm, dachte ich, das sind doch Ausläufer einer Ader, einer einzigen Ader, glitzern immer die gleichen Quarze darin, tragen immer die gleichen Mengen Erz, führen alle ins Herz des Berges.

Graben wir uns, also, vor.

Richtig, in nie gekannter Weise exhibitionieren sich die Menschen im weltweiten Web, der letzte Beziehungsstatus, das jüngste Feierfoto, der scheinbar intimste Gedanke in Nullen und Einsen, für alle sichtbar. Richtig, auch offline öffnen die Männer und die Frauen willig ihre schmuddeligen Trenchcoats für Paybacks, Supernannies und nahtlose Bräune. Und natürlich auch richtig, der Antichrist möchte am liebsten alle bundesdeutschen Arschlöcher mehrmals am Tag bis auf den Grund durchwühlen, um darin den bösen braunen Terrormann zu finden, und ändert dafür die Gesetze, bis, ich würde wirklich nicht auf den folgenden Link klicken, wenn ich meine Arbeit, meinen Partner oder meine Katze behalten wollte, bis der Goatse-Mann der beste Musterbürger ist.

In den Händen Schäuble O'Briens, eines gründlichen Personalers, einer neidischen Nachbarin oder auch einer Frau, die ich liebe, was wird aus all dieser Information, all dieser Offenheit, all dieser Nacktheit?

Wie haben Sie den Bundesminister des Innern auf Lebenszeit gerade genannt?

Wie, Sie möchten für die EU arbeiten, die Sie mal für impotent gehalten haben?

Wie, Se hend zu meim Haus "Anne Franks Versteck" gsecht?

Wie, Du hattest mit fast 22 noch nie ein Mädchen geküsst?

Ja.

Ja und?

Ich sehe in die Höhle, die sich hinter diesem letzten Schlag meiner Spitzhacke weit aufgetan hat, und weiß nicht, was in der Dunkelheit wartet. Aber im Lichte meiner Kerze stehe ich erleuchtet, und ich weiß, dass es gut ist, wie ich bin.

Und aus der Schwärze kommt eine Brise, die nach Moos duftet, nach Stein und nach Meer. Nach Freiheit.

Denn wenn jeder mehr über jeden weiß, wird es egaler, wie jeder ist. Wenn wie nach einer Flut aus jedem Keller vermeintlicher Unrat und Tand nach oben schwemmt, wer mit Anstand wollte noch den ersten Stein werfen, aus den Fäden eines öffentlichen Lebens anderen einen Strick drehen? Und wie wollten sich selbst die mit Macht diesem Schwall entziehen?

Wenn jeder mehr über jeden weiß, gibt jeder sich weniger Illusionen hin. Und lernt vielleicht früher, hinter das Gloria der Fassade und die Verteufelung der Macken zu sehen, den Menschen zu sehen, der gut ist, wie er ist.

Wenn man wegen seiner öffentlichen Wehrhaftigkeit und Korrektheit nicht eingestellt wird, wird es gleißend klarer als zuvor, wer auf der Seite des Lebens steht und wer nicht, und gegen wen man das Schwert zischend aus der Scheide ziehen muss.

Wenn wir nicht in die angebliche Norm und die vorgebliche Form passen, müssen nicht wir uns der Form, sondern die Form sich uns angleichen, das Verlinkte ist so ziemlich der beste einzelne Comicstrip, den ich in meinem Leben je gelesen habe.

Wenn wir sind, wer wir sind, sind wir glücklicher.

Ich höre schon, wie die Stimmen sich erheben und mir, nochmal danke für die Verlinkung, Naivität vorwerfen, Idealismus, Blütenträume, die Tatsache, dass die ohne Anstand und die mit Macht immer Wege und Mittel finden werden, ihre Leichen möglichst tief und wasserfest zu verscharren, jedem anderen aber lautstark seine vermeintlichen Verfehlungen vorzuwerfen und ihn nicht einzustellen, ihm keine Wohnung zu geben, ihn nicht zu lieben. Und das stimmt, natürlich.

Aber die Frage, die einzige, ist:

Wer. Bestimmt. Mein. Leben?

Diogenes, und, mit gänzlich anderen Zielen, auch Alexander haben ihre Antwort gefunden, und es war die gleiche, rein und glasklar, wie Wahrheit ist.

Tun wir es ihnen nach.

Seien wir so frei!

6 Kommentare:

  1. Wie, Sie sind, so sagt man, kokainsüchtig und haben Arbeitszeugnisse gefälscht ..?!

    Wie, Sie surfen auf erotischen Seiten im Internet ..?!

    Wie, du hast eindeutig manische Züge ..?!

    Wie, du hast ein Flair für schwülstig-kitschige 1970er-Jahre-Mucke und -Erotik ..?!

    Wie, du hast ein Foto deiner Ex mit einem schwarzen Balken über den Augen wie bei den reisserischen Artikeln auf der in grässlich-schmutzigem Gelb eingefärbten ersten Doppelseite von Praline und Konsorten veröffentlicht ..?!

    Ja, und ..?!

    Genau.

    Gut!

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  2. Andi,
    gib es zu,
    Du bist der Goatse-Mann....
    Wußt ich's doch ;-)

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  3. Hmm, einige Sachen kann man zwar zugeben, aber sollte man nicht machen...

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  4. Heute eine Lanze für den Datenschutz und Privatsphäre brechen und morgen verlangen auch das letzte Feigenblatt abzulegen. tsts

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  5. Mitnichten. Es geht darum, inwieweit man sein Leben von der Meinung der anderen bestimmen lassen will. Das kann natürlich jeder für sich entscheiden. Aber ich denke, die Welt wäre besser, wenn weniger Menschen sich Sorgen machen würden, wie sie nackt aussehen, und mehr zu sich stehen.

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  6. Wer einem gegen seinen Willen das Feigenblatt runterreißen will wie z.B. der Bundesminister der Gestapo, muß natürlich bekämpft werden. Aber daß es einen riesigen Unterschied zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Öffnung gibt, ist ja klar.

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