-->

10.07.2009

Death to Spreeblick

Ich bin wirklich brav zurzeit. Ob es draußen 25 Grad hat oder 35, bräunende oder streichelnde Sonne, ob die norwegischen oder die schwedischen Synchronschwimmerinnen vor der Tür kostenlos Eis und Massagen verteilen, ich sitze im Computerpool der Universitätsbibliothek und schreibe meine Diplomarbeit über Blogs und Politik in den USA. Ich komme gut voran und liebe Amerika mit jedem Tag mehr.

Heute habe ich aus Neugier nach langer Zeit mal wieder geschaut, womit sich die größten Blogs in Deutschland beschäftigen.

Großer Fehler.

Dieser Eintrag im Top-5-Blog Spreeblick ist von so einer durchdringenden Perfidie, Pseudoabgeklärtheit, Ignoranz, Bräsigkeit, Konsenssucht, Wohlstandsselbstkasteiung und endlich reaktionären Unoriginalität, dass man den Autor Johnny Haeusler nicht zum ersten Mal gewaltsam schütteln und ihm mit voller Kraft aus nächster Entfernung dies ins verkniffene Irgendwas-mit-Mediengesicht brüllen möchte:

Hör auf, so gott-fucking-verdammt deutsch zu sein!!

Okay. Zwei Pillen und ein Schluck Wasser aus dem Hahn. Systolisch 173, wieder ganz normal also. Zurück an den Computer und alles nochmal ganz langsam von vorn.

Worum geht es?

Das Mitglied in mittleren Rängen der Piratenpartei Bodo Thiesen ist durch fragwürdige Äußerungen zum Holocaust aufgefallen, 2008 auf der Mailingliste der Partei und offenbar schon früher im Usenet, wie einige Blogger herausgefunden haben, und weswegen jetzt offenbar eine Kontroverse hochkocht.

Ahaha, das gute alte tote Usenet.

Mein grausamer, mein geliebter, mein bester Lehrmeister für Diskussionen im Netz.

Schauen wir uns also an, was Bodo Thiesen im Usenet geschrieben hat, aber weil wir nicht so viel Zeit haben, Diplomarbeit, remember, gehen wir nur ganz oberflächlich drüber, zum Beispiel durch Gruppen wie de.talk.tagesgeschehen oder de.soc.politik.misc, gedacht als Anlaufpunkte für gesittete Diskussionen über aktuelle oder fortlaufende Politik, tatsächlich Sammelbecken für Antisemiten, Paranoiker und Wortdiarrhötiker aller eitergrünen bis schwarzbraunen Schattierungen, aber that's the Internet for you. Also, nur ein paar Auszüge.

Bodo Thiesen im Thread "Simon Wiesenthal Center fordert Buchzensur", 28. Februar 2003:

> Ich kaufe Bush diese Rhetorik nicht ab.

Ich auch nicht. Es geht um Öl. Nicht mehr, und nicht weniger.

> Blair und die CDU/CSU stimmen
> ihm zu.

Klar, wer will sich schon die USA und die ##### zum Feind machen?

Gruß, Bodo
--
PS: ##### ist eine freiwillige Selbstzensur, um mich vor juristischen
Atakken von der ######### Seite zu schützen.

Fast alle Einträge von Bodo Thiesen im Thread "Wird Friedmann als Quotenjude geopfert?" aus dem Jahr 2003, zum Beispiel am 13. Juni, am 18. Juni und gleich ein-, zwei-, dreimal am 24. Juni.

Und schließlich Bodo Thiesen im Thread "Geschichte kann auch Strafe sein", 7. Juli 2003:

>> Geschichte kann auch Strafe sein.

>Strafe, die selbst verursacht wurde.

Es gibt Theorieen, die besagen, daß die deutschen Main-Stream-Medien von den
[WARNING in zensoring.c: SENTENCE ABORTED: §130StGB Compliance not assured]

[...]

>> Zeigt man denn anderswo auf andere Länder?
>> Zeigt man auf Russland, England, USA oder Japan?

>6 Mio. Menschen wurden umgebracht. Das dauert nun mal bis das vergessen ist.

Zu den 6 Mio. Menschen, kann ich nur sagen, daß ich da so meine
[WARNING in zensoring.c: SENTENCE ABORTED: §130StGB Compliance not assured]

>Unsere Vorfahren hätten sie ja nicht umbringen müssen.

Meine Vorfahren haben keinen umgebracht. Ich kann für Deine nicht sprechen.
Vor allem aber habe ICH keine umgebracht.

>Die verordnete Humanität ist auch in der Bevölkerung nicht so ganz
>angekommen.

Wenn "verordnete Humanität" mit "bitte zahlt mal hier und dann bitte noch
da, ach ja, dies hier hätten wird ja fast vergessen, und natürlich auch
noch ..." gleichzusetzen ist, dann kann ich da auch nichts positives drin
sehen.

>Unsere Straßen sind Luxuspisten während die Scheißhäuser unserer Schulen
>schon lange nicht mehr zu benutzen sind.

Ich habe da meine Beobachtungen gemacht. Wenn ich die hier nennen würde,
würde mich das zu einem Antisemiten oder wenigstens zu einem Nazi machen,
daher lasse ich das jetzt.

[...]

>Man muss sich nicht menschlich nennen sondern auch so handeln.

Klar, das geht aber nicht, indem man fortan auf 12 Jahren "deutscher"
Geschichte rumhackt, und dabei 1000 Jahre vergisst, in denen Deutschland
vom Ausland (vorzüglich F) gegängelt wurde.

Gruß, Bodo

Ich bin seit über zehn Jahren im Internet unterwegs, viele, viele Jahre davon auch im Usenet. Ich erkenne einen Judenhasser und Naziapologeten, wenn ich einen sehe. Ich rieche sie. Die Affinität zu vergifteten Foren. Das obsessive Zergliedern einzelner Wörter. Die Pseudowissenschaftlichkeit und die Pseudoselbstdistanzierungen. "Juden sind auch Menschen", oder anders gesagt, "I have black friends too". Die "clevere" Vermeidung von Justiziabilität. Und über allem der überwältigende Wunsch, fragen zu wollen, was um Himmels Willen Bodo Thiesens Problem ist, wieso er sich in so, so starker Weise mit den Juden und den Nazis befasst.

Ich weiß es. Ich fühle es in meinen Knochen. Aber ich kann es nicht beweisen. Bodo Thiesens Aussagen sind geschickt genug, seine Punkte gültig genug, um alles glaubwürdig genug abstreiten zu können, und darum schreibt er ja auch, wie er schreibt. Nein, ich bin kein Nazi, aber haben die Polen uns nicht zuerst den Krieg erklärt? Nein, ich bin kein Verschwörungsspinner, aber sind die Umstände von Möllemanns Tod nicht seltsam? Nein, ich hasse keine Juden, aber sollten sie nicht besser zusammenpacken und abhauen? Nein, nein, nein ... aber?

Es gibt für mich keinen Zweifel, dass Bodo Thiesen extreme rechte Ansichten zum Dritten Reich, zum Holocaust und zu Juden hegt. Ansichten, die ich für widerlich, anstößig und absurd falsch halte. Und ich verstehe die Piratenpartei, wenn sie sich überlegt, ob sie so einen Menschen weiter in ihren Reihen behalten will.

Aber, und das ist der Punkt dieses Eintrages, und warum ich es so hasse, dass eine so prominente Plattform, eine so großartige Möglichkeit zur Förderung des Wahren und des Guten wie Spreeblick Beschränkungen der Meinungsfreiheit das Wort redet, ich würde bis zum Blut dafür kämpfen, dass Bodo Thiesen seinen Scheiß, seinen Müll, seinen menschenhassenden Eiter von jedem Dach brüllen darf.

Weil die Freiheit der Rede die erste Voraussetzung einer freien Gesellschaft ist.

Dass jeder mit gleichem Recht sagen darf, was er will.

Dass nicht einige Redner oder Reden gleicher sind als andere.

Nur in dieser grundlegenden Gleichheit bestehen für mich Freiheit und Demokratie.

Wo ist die Grenze dieser Gleichheit, dieser Freiheit?

Erst ganz, ganz nah vor der Nase des anderen.

Alles andere erscheint mir undemokratisch, ungleich, unfrei.

Also: "Feuer!" im geschlossenen, übervollen Kino schreien? Verbieten. "Tötet diesen Bastard, den da hier!" - Verbieten. "Diese Hure hier klaut aus der Kasse!" - Vielleicht verbieten. "Schröder, der Bock, schläft mit Maischberger, der Schlampe!" - Nicht verbieten. "Es gab keinen Holocaust!" - Nicht verbieten. "Tod den Juden!!" - Nicht verbieten.

Im Zweifelsfall, gültig wie immer: Lasst. Euch. Eier. Wachsen.

Tut selbst was gegen abstoßende Rede, widerlegt sie zum Beispiel oder redet lauter.

Und hört endlich, endlich auf, nach der Amme Staat zu rufen.

Ihr gottverdammten Deutschen.

9 Kommentare:

  1. Volksverhetzung - verbieten.
    Beleidigungen - verbieten.
    Holocaustleugnung - verbieten.

    Deinen Blog: Einfach nicht mehr lesen.

    AntwortenLöschen
  2. "ich würde bis zum Blut dafür kämpfen, daß Bodo Thiesen seinen Scheiß, seinen Müll, seinen menschenhassenden Eiter von jedem Dach brüllen darf."

    Ich glaub dir kein wort!Mit blogs kämpft man hier sicher nicht für freiheiten und ich hab dich noch nie auf der strasse für eine gute sache gesehen, ich hab noch nie gehört, dass du dich an eine botschaft oder sonstwas gekettet hast, um auf missstände aufmerksam zu machen etc.
    du bist du auch nur in deinem geschützten haus und regst dich über, im globalen vergleich, nichtigkeiten auf.

    damit ändert man die welt sicher nicht. immer nur anklagen, anklagen, aber eigentlich nichts machen.

    niemand hält dich auf, du kannst in die usa gehen. aber da ist sicher auch nicht alles gold, was glänzt.

    und diese immerwieder kehrende beschäftigung mit der deutschen geschichte, in dieser form, wortewälzend und sich über versteckten antisemitismus aufregend, ist sicher auch nicht der richtige weg, um irgendwas zu ändern.

    auch das ist so gottverdammt deutsch!!!

    schreib lieber dein diplom.

    AntwortenLöschen
  3. "Im Zweifelsfall, gültig wie immer: Laßt. Euch. Eier. Wachsen.

    Tut selbst was gegen abstoßende Rede, widerlegt sie zum Beispiel oder redet lauter."

    http://wiki.piratenpartei.de/Offener_Brief_an_Bodo_Thiesen

    "ich würde bis zum Blut dafür kämpfen, daß Bodo Thiesen seinen Scheiß, seinen Müll, seinen menschenhassenden Eiter von jedem Dach brüllen darf."

    Von meinem Dach möchte ich ihn entfernt wissen!

    AntwortenLöschen
  4. Hallo Andi, ich kann Dich gut verstehen und finde Deinen Beitrag mutig.

    Es ist sehr schwierig dieses Thema zu Ende zu denken. Ich stimme Dir gefühlt zu, glaube aber, dass unsere Gesellschaft noch nicht "reif" genug dafür ist.

    Die meisten Leuten sehen immer nur die vielen Nachteile einer weiten Meinungsfreiheit, die es sicherlich gibt, nicht aber die wenigen Vorteile, die es für das Verstehen hat, ein Thema einmal offen und unverstellt vom Gegenüber zu erfahren.

    Dabei kann dies vielmehr die Meinung ändern, als wenn man immer nach den Sprachregelungen vorgeht.

    Besonders tragisch finde ich, dass sich die Kommentare auf den Artikel größtenteils selbst wiederlegen. Es wird nicht argumentiert, es wird zurück gehetzt. So wird offen gelegt wie gedacht wird: Meinugsfreiheit ja, aber nur für meine Meinung, nicht für die, die ich nicht mag.

    AntwortenLöschen
  5. Okay. Volksverhetzung, Beleidigung, Holocaustleugnung - nicht verbieten. Weil es abseits des unmittelbaren Schutzes von Persönlichkeitsrechten nicht Sache des Staates sein darf, freie Rede zu zensieren. Zensur bewirkt auch immer nur das Gegenteil.

    Den offenen Brief an Bodo Thiesen finde ich gut, sehr detailliert. Nichtstaatlichen Organisationen steht es nach meinem Dafürhalten mehr oder weniger frei, welchen Arten von freier Rede sie sich aussetzen wollen und welchen nicht.

    Die Kritik an meiner Untätigkeit schließlich ist gültig, auch wenn dieser Eintrag bereits eine kleine Tätigkeit pro höherrangiger Meinungsfreiheit darstellt. Doch mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. In Zukunft dann weiterreichendere Aktivität ...

    AntwortenLöschen
  6. Argumentativ zwar völlig wertlos, für "Irgendwas-mit-Mediengesicht" musst ich trotzdem kurz klatschen...

    AntwortenLöschen
  7. Care to elaborate?

    AntwortenLöschen
  8. Die Bezeichnung "Irgendwas-mit-Mediengesicht" trägt nichts zu deiner restlichen Argumentation bei, weil polemisch und ziemlich persönlich - aber kurz lachen musst ich schon als ich mir das vorgestellt habe.

    AntwortenLöschen
  9. Ach so, nicht der ganze Eintrag ist argumentativ wertlos, sondern das Mediengesicht. Na dann :)

    AntwortenLöschen