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19.06.2009

Iran

Die Grüne Revolution

Ich bin viel zuwenig informiert. Die herkömmlichen Medien machen einen furchtbaren Job, dass die Mullahs den Journalisten das Wort verboten haben, ist keine Ausrede. Im Internet fällt es oft schwer, Rauschen von Wissen zu unterscheiden. Und im Iran lebende Iraner kenne ich leider nicht. Wenigstens auf Blogger wie Andrew Sullivan und einige wenige Medien wie den "Economist", natürlich, und Al Jazeera ist Verlass, ich empfehle, öfter mal Reportagen dieses Senders anzusehen, Al Jazeera stellt Fragen, die andere Anstalten nicht mal denken können.

Trotz meiner Uninformiertheit daher, und aus der Erfahrung meiner zwei Praktika in Nordkorea folgernd, in Verbindung mit meiner generellen, aber sympathischen Unbescheidenheit, hier meine Gedanken zur Grünen Revolution.

Das politische System Irans funktioniert so: Der Oberste Führer, Ali Khamenei, hat die Macht und genießt sie auch. Er gibt keine Interviews. Er äußert sich fast nie öffentlich. Wenn jemand ihn sehen will, muss er nach Teheran kommen. Er gibt die Richtlinien vor, überwacht die Politik, kommandiert die Streitkräfte und ernennt und entlässt fast jeden hohen Staatsdiener. Ein 86-köpfiger Expertenrat, dem zur Zeit der reichste Mann Irans und Gegner Khameneis, Ali Akbar Hashemi Rafsanjani, vorsitzt, soll den Obersten Führer kontrollieren und kann ihn theoretisch auch entlassen, aber macht praktisch nichts, außer sich wohlig die Eier zu schaukeln, oder was immer fromme islamische Geistliche stattdessen tun. Kurz, wenn Khamenei morgens in sein Büro kommt, holt er zuerst das gewellte Porträt von Ajatollah Khomeini aus der Schublade und küsst es innig, innig und drei Minuten lang.

Dann steckt er es schnell zurück, weil ihm Khomeinis Blick so Angst macht.

Das lästige Tagesgeschäft des Regierens und der Gesetzgebung übernehmen der Präsident und das Parlament, die vom Volk gewählt werden. Doch Präsidentschaftskandidaten wie auch neue Gesetze müssen erst vom Wächterrat genehmigt werden, der aus sechs vom Obersten Führer ernannten Islamgelehrten und aus sechs vom Parlament aus den Vorschlägen des Oberhauptes der Justiz gewählten Juristen besteht. Wer ernennt das Oberhaupt der Justiz? Der Oberste Führer. So it's good to be the king, denn durch dieses System können die Iraner in vergleichsweise demokratischen Wahlen alle paar Jahre Dampf über Armut, Arbeitslosigkeit und Willkür ablassen, aber dank des Wächterrates bleibt der Deckel drauf, Quatsch wie ein Gorbatschow oder Frauenrechte kommen nicht in die islamisch-republikanische Wundertüte, und Ali Khamenei kann weiter jeden Morgen in Ruhe das Bild seines Vorgängers knutschen, mit Zunge, ganz gleich, wer gewählt wird, knutschen heute, morgen und immerdar, Inshallah.

Warum dann die Fälschung?

Ich denke, der "Economist" trifft es:

What could explain such an apparently blatant attempt to rig an election that, even had Mr Mousavi won, would have represented little threat to either the republic or its supreme leader? The most likely theory is of a plan gone awry. Given the line-up of institutions either controlled by Mr Khamenei or systematically packed with Mr Ahmadinejad’s supporters, and given that no incumbent president in Iran has yet lost to a challenger, it may have seemed safe to bet on the president’s victory. This would have brought the added satisfaction to many dyed-in-the-wool conservatives, possibly including Mr Khamenei, of weakening the position of Mr Rafsanjani, who has mounted a rearguard struggle to contain the president’s influence.

Just to make sure, strong potential challengers, such as Mr Khatami and the popular, conservative mayor of Tehran, Muhammad Qalibaf, were "persuaded" by the supreme leader not to run. Compared with the ebullient, politically canny Mr Ahmadinejad, the three remaining challengers appeared drab and uninspiring. Mr Ahmadinejad felt so confident that he agreed to an unprecedented series of televised debates. His superior political skills gave him the advantage on screen, but his scorn for his rivals helped stir up a surge of sympathy for Mr Mousavi, dispelling the political apathy that normally pervades Iran’s middle class.

Conservatives suddenly found themselves facing a torrent of youthful activists, their passion for change magnified by the spontaneous but effective use of simple symbols and modern communications. Stunned by this turn of events, Iran’s deep state appears to have opted for a last-minute, and therefore clumsy, attempt to alter the outcome in the president’s favour.

Revolutionsführer Khamenei sitzt mit seinen engsten Vertrauten in seinem großen Büro, legt die Hände auf den Bauch und wartet zufrieden auf die ersten Wahlergebnisse. Ein Foto von Ajatollah Khomeini steht auf dem Schreibtisch, es scheint nur etwas gewellt zu sein. Präsident Ahmadinejad hat einen guten, nein hervorragenden Wahlkampf geführt. Alle wichtigen Männer im Staat haben sich für ihn ausgesprochen. Die Medien haben unablässig sein Lob gesungen, die Imame für ihn gebetet, sogar einige Schauspieler in spontanen Straßeninterviews für ihn geworben, am beeindruckendsten fand der Oberste Führer eine blutjunge ...

"O Oberster Wächter des Rechts?"

"Kreuzdonnerwetter Mohammad, wie oft habe ich gesagt, dass Du mich nicht bei diesem Titel nennen sollst!? Wie soll ich das auf eine Visitenkarte drucken?! Außerdem ist nichts langweiliger, als ein Wächter zu sein ... Nachtwächter!! Was haben wir vereinbart?"

"Ähem ... O König der Pimps, d-"

"Besser."

"O König der Pimps, die Wahlbeteiligung beträgt über 80 Prozent."

"Sehr gut! Umso mehr Stimmen für ... wie heißt er noch? Mit dem Bart? Und dem strengen Geruch?"

"Äh ... unsere Prognosen zeigen, dass die meisten dieser zusätzlichen Wähler nicht für Präsident Ahmadinejad, sondern für Herrn Mousavi gestimmt haben. D-die ersten Wahllokale melden, daß Herr Mousavi mit über 60 Pro-"

Ali Khamenei wird weiß. Ali Khamenei wird rot. Er holt einen goldenen Pimpstock hinter seinem Sessel hervor. Er schlägt seinen Assistenten Mohammad auf den Kopf. Er schlägt den Vorsitzenden des Wächterrates in die Rippen. Er schlägt das Oberhaupt der Justiz in den Schritt. Er schlägt sogar das Foto von Khomeini von seinem Tisch, hebt es aber schnell wieder auf. Er nimmt den Telefonhörer und brüllt, brüllt, brüllt, bis er nur noch japsen kann. Reformwähler? Die sich gegen seinen Kandidaten stellen?! Änderungen an seinem System verlangen?!? Ihn herausfordern mit Millionen über Millionen von Stimmen, ihn, König der Pimps?!?! Das wollen wir doch sehen!!!!1

... Diese nichtenheiratenden Bastarde in der Provinz können nicht mal Wahlen richtig fälschen, denkt Khamenei. Mir-Hossein Mousavi soll sogar in seiner Heimatregion verloren haben, in seinem gottverdammten Hinterhof. Seit Tagen marschieren hunderttausende Halbstarke in grünen Lumpen durch die Straßen und lassen sich nicht mal von den prügelnden und mordenden Freiwilligentrupps der Basij einschüchtern, und sie werden immer mehr. Irgendwo sitzt dieser widerliche Geldsack von Rafsanjani und wartet nur darauf, Oberster Führer anstelle des Obersten Führers zu werden. Und was die Armee und selbst die sonst so loyale Revolutionsgarde angesichts der protestierenden Massen ihrer Brüder und Schwestern machen werden, ist alles andere als sicher. Was soll Khamenei tun? Er schaut auf das Porträt von Khomeini, aber bekommt wieder Angst vor dem Blick.

Die Fälschung einzugestehen wäre geradezu lebensgefährlich und sicher das Ende der islamischen Republik. Aber Ahmadinejad hat als Präsident ausgedient, niemand akzeptiert seinen Sieg. Doch eine Wiederwahl zu organisieren, in der Mousavi gewänne, würde zu tiefgreifenden Veränderungen führen, vielleicht müsste Khamenei sogar seinen Pimpstock abgeben. Und die Proteste auszusitzen ist auch unrealistisch, hier ist f'ing Iran, und wenn die Iraner eins können, dann protestieren. Bleibt nur ... Gewalt? Aber würde das die Legitimität der Republik nicht noch mehr zerstören als das Eingestehen des Betruges? Würde das nicht Khameneis Abgang in Blut beschleunigen, ja garantieren? Wäre das nicht ... das Ende?

Der Oberste Führer der Islamischen Republik Iran, Großajatollah Sayyid Ali Hoseyni Khamenei, sieht auf seinen Pimpstock. Er sieht auf das Porträt von Ruhollah Khomeini. Er versucht, auch so zu schauen wie Khomeini, aber vor Anstrengung wird ihm schwarz vor Augen. Er greift seinen Stock fester. Freitag, zum Gebet, wird er es ihnen zeigen, wird er es ihm zeigen, ja, Freitag. Freitag! Freitag!! ...

Ali Khamenei

Der Oberste Führer des Irans hat heute drei Dinge gesagt:
  1. Die hohe Wahlbeteiligung zeigt die Akzeptanz unseres Systems
  2. Das System funktioniert, es gab keine Fälschungen, I <3 Ahmadinejad, suck on it
  3. Ergo sind Demonstranten Feinde unseres Systems und werden plattgemacht. AB MORGEN
Was er nicht gesagt hat, aber zwischen den Zeilen schon, war dies:
  • Mahmoud, Du Versager, wenn ich untergehe, sinkst Du mit! Kiss of death, sucka!
  • BFF, Rafsanjani? Pretty please? Bitte nicht absetzen ... oder sonst! B-b-bitte?
Was heißt das nun alles? Was wird als nächstes passieren? Sind Khamenei und seine Getreuen tatsächlich so machtsüchtig, im Jahr des Twitterns 2009 ein Tiananmen an ihrem eigenen Volk zu versuchen, das Märtyrer verehrt? Würden die Armee und die Revolutionsgarde dabei mitmachen? Was wird Rafsanjani tun? Und werden sich die mutigen Iranerinnen und Iraner unterdrücken lassen und von nun an zuhause bleiben? Die Menschen, die nach Freiheit rufen, verstummen?

Wie gesagt, ich bin zuwenig informiert.

Doch eins weiß ich: Die Freiheit wird siegen, am Ende.

Möge es bald kommen.

05.06.2009

Meam vide umbram

Direkt, nachdem ich mein Studium gewechselt hatte, fast buchstäblich gestern noch exmatrikulierter Informatiker (don't ask), heute schon aufstrebender Technikpädagoge, hatte ich das erste geisteswissenschaftliche Seminar meines Lebens, "Geschlechtsspezifische Differenzen im Berufsbildungs- und Beschäftigungssystem", bei Dr. Carmen Eccard.

Ich hätte es nicht besser treffen können.

Die Referate waren lebendig und überzeugend. Die Inhalte waren fantastisch interessant und haben mich endgültig zum Feministen gemacht. Das Seminar war toll organisiert und schenkte Lust auf Wissenschaft, vor lauter Übermotivation habe ich sogar eine Hausarbeit von 27 Seiten produziert. Und Dr. Eccard war engagiert und menschlich und wurde meine Goto-Dozentin für alle feministischen Fragen, noch Anfang dieses Jahres hat sie mir auf meine Bitte nach Quellen für eine mögliche Diplomarbeit über Gender und Computer freundlich und ausführlich geantwortet. Wenn ich eine Lieblingsdozentin habe, dann sie.

Hatte.

Carmen Eccard ist am Pfingstmontag mit ihren Eltern, ihrer Schwester und ihrer zweijährigen Tochter auf dem Air-France-Flug 447 gestorben.

Einfach so aus dem Leben gerissen.

Weg.

Und es tut mir so leid.

Meam vide umbram, ja.

Aber es geht so weiter, auf der Sonnenuhr: Tuam videbis vitam.

Sieh auf meinen Schatten, und Du wirst Dein Leben sehen.

Zerbrechlich und kostbar. Schillernd und kurz. Reich und vielleicht morgen vorbei.

Nutzen wir die Zeit, die uns gegeben ist.

Wie es Carmen Eccard getan hat.

Vale!