Die allgemeine deutsche Lage
Deutschland hat, von zwei Zwergstaaten abgesehen, nach Japan die weltweit zweitälteste Bevölkerung. Das führt zu einer entsprechend alterslastigen Wähler:innenverteilung, Ältere gehen bekanntlich aus vielerlei, nicht kurzfristig stark veränderbaren Gründen mehr als Jüngere wählen, und sie wählen dabei besonders gerne die CDU/CSU. Nicht nur darum hat die Union bislang in 52 von 72 Jahren Bundesrepublik regiert; als Partei des Status Quo, des gerade unter Merkel möglichst geräusch- und effektlosen vermeintlich neutralen Verwaltens und Fernhaltens jeglicher womöglich unordentlicher und nicht einfach aufzulösender Dispute und Zielkonflikte, des "Weiter so" mit nur gerade so viel Veränderung, wie eben nötig ist, um auf der Stelle stehenbleiben zu können, und auch einer gewissen selbstgefälligen, bräsigen Piefigkeit kommt sie der deutschen Seele am ehesten gleich.Denn diese hat zum Motto "Lieber Unrecht als Unordnung" und fühlt sich darum vom Kern demokratischer Politik, also lautem und chaotischem, aber geregeltem Austausch und Abstimmen über Ziele, Maßnahmen und Mittel abgestoßen, ängstigt sich übertrieben über selbst dringend nötigen Wandel, möchte gerne belehren, aber selten belehrt werden, zieht langsamen, neurotischen Perfektionismus schnellerem, lebensnäherem "gut genug" vor, klammert sich psychopathologisch bemerkenswert an Besitzstände und hat endlich einige Idiosynkrasien, die nicht zu beachten empfindlich Stimmen kosten kann: Fetischisierung der Abwesenheit eines Tempolimits, weiße Tennissocken in Sandalen als Ausdruck der Ablehnung von "Oberflächlichkeiten" (in Wahrheit Verweigerung der Beschäftigung mit Ästhetik, weil diese nicht so einfach zu quantifizieren und regularisieren ist wie andere Phänomene), Schreckgespenst Inflation, horizontlose Unweltläufigkeit trotz "Land der Dichter und Denker"-Allüre, komplexer Vergangenheitskomplex usw.
Die Union als deutscheste aller Parteien fühlt all diese Dinge qua ihren Mitgliedern und ihren Vorständen sowie ihrer langen Erfahrung vielleicht eher, als dass ihre Strateg:innen sie mal auf eine Powerpoint-Folie gequetscht hätten, und kann sie so quasi intuitiv und somit sehr glaubwürdig vertreten, mal wie unter Kohl eher aus dem Bauch heraus, mal wie unter Merkel eher aus dem Kopf. Andere Parteien, die konstitutiv mehr Ziele verfolgen, als nur zu regieren, die FDP zum Beispiel "Fuck you, I've got mine" oder die Linke "Ich hasse meine Mutter, die SPD, und will alles tun, damit sie bitter leidet", und entsprechend anders gestrickte Mitglieder haben, tun sich bei dieser inneren Einfühlung bzw. diesem Facehugging à la "Alien" teils viel schwerer, weswegen es letztlich auch erst zweimal in der Geschichte der Bundesrepublik dazu gekommen ist, dass eine Unionsregierung abgewählt wurde, und erst einmal, 1998, nicht infolge eines regierungsinternen Seitenwechsels nach Querelen.
Kurz gesagt, jede Partei, die die CDU/CSU ablösen will, muss prinzipiell eine sehr gute Strategie entwickeln und fehlerlos ausführen, um diesen strukturell wie psychologisch absoluten Platzhirschen verdrängen zu können, und braucht selbst dann wahrscheinlich Rückenwind von charismatischen Persönlichkeiten und/oder außergewöhnlichen Ereignissen.
Die allgemeine globale Lage
Die Welt schmeckt den Deutschen nicht und wird es in naher Zukunft noch viel weniger, so sehr wir uns wünschen mögen, auf einer unbekannten Insel zu leben. Die Coronapandemie baut mit der Deltavariante die bisher vielleicht tödlichste Welle auf, doch selbst diese ist nur ein Vorgeschmack auf zukünftige Herausforderungen der immer vernetzteren Welt; eine zunehmend akutere Klimakrise, über die hier noch zu schreiben sein wird, verlangt eigentlich eine Mobilisierung auf dem Niveau derer für den 2. Weltkrieg, nur diesmal wirklich weltweit, für Jahrzehnte und mit viel ungewisserem Ausgang; der Niedergang des demokratischen Westens, die Abwendung Amerikas von Europa und seine Hinwendung nach Asien, die vielfältigen Querelen in der EU und der Aufstieg aggressiver und autokratischer Mächte wie China, Russland und Iran erzeugen eine unübersichtlichere, multipolarere Welt als je seit dem Fall der Mauer, in der kleine Handlungen an einem Ort unübersehbare Konsequenzen auf der anderen Seite der Erde haben können, aber Nichthandeln keine Option ist; Ungleichheit, nicht nachhaltiges Wirtschaften, die spirituelle Leere des kapitalistischen Konsum- und Überarbeitungshamsterrades usw. lassen Gesellschaften zuerst subterran unruhig und suchend werden, bis sich die Frustrationen dann jäh und überraschend z.B. im Brexit oder den Wahlen Trumps und Bolsonaros entladen; und viele weitere, oft verbundene Phänomene wie die in vielem toxische Agora der profitgesteuerten "sozialen" Medien, weitgehende gesellschaftliche Entsolidarisierung und Atomisierung, unbezahlbare Immobilienpreise, ungleichgewichtige wirtschaftliche Globalisierung usw. machen die Welt viel volatiler, unüberschaubarer und auch gefährlicher als noch im Jahr 2000. Eine vor allem auf Stabilität, Berechenbarkeit, Besitzstandswahrung und inkrementelle Veränderung (wenn überhaupt) erpichte Gesellschaft wie die deutsche steht angesichts dieser Lage emotional und geistig inhärent schlechter da als ein dynamischeres Land wie z.B. die USA. Es wäre also eine Hauptaufgabe verantwortungsvoller deutscher Politiker:innen, die deutsche Bevölkerung fitter für die Zukunft zu machen, getreu des Ausspruchs, den angeblich der verklärte Deutschenliebling Gorbatschow getan haben soll: Кто опаздывает, того наказывает жизнь (Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben).Die spezifische deutsche Lage
Nach 16 Jahren merkelschen Verwaltens, Von-der-Substanz-Lebens, Nichts-Erklärens, absichtlichen Depolitisierens der Öffentlichkeit und vieler Schäden mehr, die diese schlechteste Bundeskanzlerin seit Kiesinger Deutschland und Europa zum Zwecke ihres Machterhalts zugefügt hat (und über die ebenfalls noch zu schreiben sein wird), steht unser Land miserabel da: die Infrastruktur marode und veraltet (all diese kollabierenden Brücken sind kein Zufall), die Bildung mit einfachen Digitalisierungsaufgaben überfordert und föderal zerwaltet, der größte Niedriglohnsektor aller EU-Hochlohnländer, eine dringend nötige tiefere EU-Integration, EU-Klimaschutz, EU-Sozialpolitik usw. zugunsten der nationalen Großindustrie unterlaufen oder gar torpediert, der deutsche Solarsektor zerstört und dem deutschen Windsektor wird auch schon das Kissen ins Gesicht gedrückt, ein international unverständliches Einnehmen einer "mittleren" Position zwischen unseren westlichen Alliierten und teils brutalsten Diktaturen wie Russland und China, astronomische Mieten usw. usf. etc. Es trifft so eine angesichts der großen Veränderungen in der Welt, die ihr von der Politik nie richtig erklärt wurden, verunsicherte und sich darum (siehe oben) umso mehr ans scheinbar Bewährte klammernde deutsche Bevölkerung auf einen immensen Reformbedarf, nur um in Zukunft überhaupt noch hörbar im Konzert der Welt mitspielen zu können, geschweige denn, es substantiell mitzugestalten. Doch als nächste(r) Kanzler(in) kommen nur in Frage:- Annalena Baerbock von den Grünen, die zuerst zur neuen frischen Hoffnung hochgeschrieben wurde, dann jedoch angesichts völlig erwartbarer Attacken nicht nur von konservativer Seite letztlich wegen Kinkerlitzchen wie übertriebenen Angaben in ihrem Lebenslauf und einzelnen Versprechern derart demontiert und als vermeintliche Hochstaplerin negativ definiert wurde, dass ein Comeback im Moment schwer vorstellbar erscheint. Die Grünen, die ihre Hände in den letzten Jahren im Palmolive wohlwollender medialer Berichterstattung und populärer Rezeption gebadet haben, ohne im Bund Regierungskompromisse gemacht haben zu müssen (bzw. weil), scheinen allen Ernstes geglaubt zu haben, dass die Union angesichts ihres drohenden Machtverlustes nicht alle Messer, Macheten, Kettensägen und Stockdegen hervorholen und weit unter der Gürtellinie zuschlagen würde. Dabei hat sie nur die Macht und wird diese bis zur letzten Patrone verteidigen. Die grüne Kampagne hat Baerbock, die es als Parteivorsitzende ohne Erfahrung wenigstens als Landesministerin auch unter idealen Umständen schwer gehabt hätte, glaubwürdig das dritthöchste Amt im Staate ausfüllen zu können, so ohne Not Wackersteine in den Weg gelegt, indem sie nicht mal ihren CV gegengelesen hat! Eine solche Unprofessionalität zerstört im Vorhinein das ansonsten mögliche Obama-Argument "Look at my campaign to see how I would lead", und das obwohl die Grünen, denen in diesen Fragen die höchste Kompetenz zugeschrieben wird, mit der immer akuteren Klimakrise eigentlich einen Elfmeter ins leere Tor schießen können müssten. Aber - You come at the king, you best not miss!
- Olaf Scholz von der SPD, der eigentlich vergleichsweise solide Arbeit macht, viel Erfahrung hat, meist den richtigen Ton trifft, zuletzt nach der Flutkatastrophe, und auch hohe Kompetenzwerte zugeschrieben bekommt, sowohl absolut als auch im direkten Vergleich, aber südlich des Labskausäquators gelinde gesagt eine Charismaeinschränkung hat und Kandidat einer (meiner) Partei ist, deren Kompetenzzuschreibungen seit Jahren leider immer tiefer in den Keller rauschen. So sollte Scholz einerseits aus praktischer Notwendigkeit sagen, dass man SPD wählen soll, wenn man ihn zum Kanzler haben möchte, andererseits aber aus taktischer Notwendigkeit tunlichst verschweigen, dass er Genosse ist. Kein leicht aufzulösendes Dilemma, zumal die SPD-Kampagne zwar viele richtige Akzente setzt, jedoch weiterhin ein größeres, greifbareres und inspirierendes linkes Narrativ jenseits eines fleißigen Reparaturbetriebes unserer schlimmsten Probleme vermissen lässt (darüber werde ich auch noch schreiben).
- Armin Laschet von der CDU, der plump, spießig, horizontlos, inkompetent, unintelligent, jähzornig, ohne Gravitas, unansehnlich und hoffärtig ist. Das Problem dabei ist, dass viele Deutsche gerade im Westen genauso sind und sich gern in ihm gespiegelt und validiert sehen, so wie sie sich auch im ähnlichen, wenngleich intelligenteren Kohl gespiegelt gesehen und ihn sie darum für 16 endlose, bleierne Jahre haben regieren lassen. So wie es ein "Polen A" westlich der Weichsel gibt - entwickelter, weltoffener, westgewandter usw. - und ein "Polen B" östlich des Flusses - ländlicher, konservativer, ostgewandter - gibt es vielleicht auch ein Deutschland A und B, nur weniger klar geographisch getrennt. Deutsche möchten in der Regel, dass ihre KanzlerInnen vom Habitus her aus Deutschland B kommen, sich jedoch als Menschen aus Deutschland A zu geben verstehen, gerade auf dem internationalen Parkett. Merkel hat dies zügig gelernt, nachdem Schröder es fast perfektioniert hatte. Kohl hat dafür länger gebraucht, aber letztlich den Mantel der Geschichte ergriffen und zumindest während der Wende und der europäischen Einigung keine allzu peinliche Figur abgegeben; vielleicht haben ihm in Gegenteil gerade seine authentischen Strickjacken und Saumägen geholfen, gute persönliche Beziehungen z.B. zu Gorbatschow aufzubauen. Bei Laschet jedoch, wie z.B. schon Kurt Beck vor ihm, fehlt jede Ahnung, dass er Deutschland A kann. Feixt und grimassiert im Hintergrund, während der Bundespräsident die Fluttoten betrauert. Wird nach maximal zwei kritischen Fragen giftig aufbrausend auf eine fiese Weise, die sich Kohl nie erlaubt hätte - er kanzelte lieber herrisch ab, was natürlich auch nicht optimal war, aber immerhin nicht so mies und klein wirkte. Versteht buchstäblich intellektuell weder u.a. für, ach ich weiß nicht, Pandemien wichtige Exponentialfunktionen noch die Natur der Klimakrise. Hat Klausurnoten gewürfelt. Ist durch Protektion von Saufkumpanen nach oben gekommen und weil es immer wieder "niemanden Besseres" (so Laschets Frau) zu geben schien, nicht hauptsächlich aus eigener Strahlkraft und Brillanz. Usw. usf. etc. Und dennoch führt seine Union in den Umfragen bequem, aus den oben genannten Gründen und weil Baerbock und Scholz bisher gepatzt bzw. noch nicht genug angegriffen haben. So fährt Laschet, wie es oft heißt, im Schlafwagen zur Macht, bequem auf den Daunen des Wissens gebettet, dass es noch ganz andere Krisen als eine Flut mit über 150 Toten braucht, um in Deutschland eine Wechselstimmung zu erzeugen. Und schließlich muss er nicht gut sein, es darf nur anscheinend oder scheinbar niemanden Besseres geben.
Vor der Flut.