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23.02.2007

Warum lief Herr B. Amok?

Ein paar Monate ist das misslungene Selbstmordattentat des Sebastian Bosse ja schon her, aber Wahrheiten verjähren nicht. Darum ein wenig Beschäftigung mit dem Abschiedsbrief des Amokläufers in seiner unzensierten Form:

Wenn man weiss, dass man in seinem Leben nicht mehr Glücklich werden kann, und sich von Tag zu Tag die Gründe dafür häufen, dann bleibt einem nichts anderes übrig als aus diesem Leben zu verschwinden. Und dafür habe ich mich entschieden. Es gibt vielleicht Leute die hätten weiter gemacht, hätten sich gedacht "das wird schon", aber das wird es nicht.

Wie ein Hologramm enthält im Grunde schon der erste Absatz des Briefes das gesamte Werk und lässt entsprechend eine Betrachtung aus allen Winkeln zu.

Eine Betrachtung, die einem das Herz bricht.

Denn es mag manchmal scheinen, als ob sich Tag für Tag das Pech häuft, bis es sich erstickend türmt, umso mehr für einen gemobbten 18-Jährigen, dem die letzten Reste des schützenden Schleiers der kindlichen Naivität davonwehen, der sie erschreckend und entsetzend davonreißt.

Es mag manchmal scheinen, als ob

Geld alles regiert, selbst in der Schule ging es nur darum. Man musste das neuste Handy haben, die neusten Klamotten, und die richtigen "Freunde". hat man eines davon nicht ist man es nicht wert beachtet zu werden.

Als ob es nur in der Herde Wärme gäbe, nur in der Austauschbarkeit Erfüllung, nur in der Aufgabe seiner selbst Glück.

Als ob einer wie Arthas niemanden finden könnte, der ihn liebt, wie er ist.

Als ob es für einen wie ihn nur den Lichkönig gäbe, nur die unerbittliche und eiskalte Umarmung des Herrn der Untoten, nur den Gefrorenen Thron für tausend und tausend Jahre.

Für einen 18-Jährigen ohne Lebens- und ohne Liebeserfahrung mag es so scheinen. Es mag auch neun Jahre später so scheinen und fünf und zehn mal neun Jahre später, erdrückend wie der größte Gletscher des nördlichsten Kontinents, und nur die höchste Spitze, nur der Gefrorene Thron scheint im Zwielicht zu glitzern.

Ich will R A C H E

Aber es ist nicht so.

Und wenn jemand, irgendjemand eine, nur eine der hundert, tausend digitalen Spuren des Sebastian Bosse verfolgt und ernst genommen hätte und ihn in den Arm und ihm gesagt, dass es keine Täler geben kann, wenn es nicht auch Berge gibt, dass erst die Täler die Gipfel so majestätisch machen, dass den Aufstieg am meisten genießen wird, wer zuvor durch die tiefste Schlucht gewandert ist, kurz, dass es hinaufgeht, wenn man nur vorangeht, dann wäre vielleicht, möglicherweise, eventuell alles anders gelaufen.

Die Berge zu verleugnen, hieße der Hoffnung Abschied sagen. Die Sterne, um mit Oscar Wilde zu sprechen, zu verleugnen, hieße dem Leben Abschied sagen.

Wir mögen alle in der Gosse liegen, und es mag in manchen Momenten furchtbar sein, bis ins Innerste furchtbar und kalt und einsam, und der Lichkönig flüstert heiser zu uns.

Aber es gibt die Sterne.

Und wir können, anders als Oscar Wilde, nicht allein zu ihnen sehen, sondern zu ihnen fahren.

Und Freiheit finden.

Und Glück.

Hätte jemand, irgendjemand Sebastian Bosse dies gesagt, dies gezeigt, es hätte anders kommen können.

Aber in einer Welt, die die pubertäre, durchschaubare, simplizistische Kritik eines 18-Jährigen zensieren muss, in einer Welt, die wie Nebukadnezzar träumt, auf wackelnd tönernen Füßen zu stehen, in einer Welt, die den leisesten Zweifel an ihr selbst nicht auszuhalten vermag, in einer Welt also, die sich nur zu gern der tötenden Umarmung des Untoten hingibt, hört einen niemand sagen und niemand zeigen und niemand schreien.

Sehen wir ins traurige Kindergesicht von Sebastian, in dieses flaumige, schüchterne Gesicht und machen uns gegenwärtig, dass dieser junge Mann heute noch am Anfang seines Lebens stehen könnte und es in tausend und tausend Inkarnationen auch tut.

Für ihn kommt jeder Ruf, jede Hilfe zu spät.

Aber nicht für die, die sind wie er.

Nicht für die Welt, die die wie ihn in kalte, gepanzerte Arme treibt.

Und nicht für die Sterne, die, wirklich glitzernd, uns erwarten, zu ihnen zu fahren.

Zu ihnen zurückzukehren.

Sebastian Bosse

1 Kommentar:

  1. Sehr, sehr guter Artikel. Vergleich mit Arthas gat mir besonders gut gefallen.

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