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30.03.2005

Fast hätt ich's vergessen

...aber ein so erstaunlich einsichtiger Artikel wie dieser, "Polizei im Kopf" von Ulrich Greiner aus der "Zeit" Nr. 10 dieses Jahres, soll nicht gänzlich unbemerkt bleiben, wenngleich es weiteren meinseitigen Kommentar zur Causa zeitgezwungen erst später geben wird. Hervorhebung meine.

[...] John Stuart Mill hat in seiner berühmten Schrift On Liberty (1859) zwischen jenen menschlichen Handlungen unterschieden, die die Interessen anderer berühren, und jenen, die es nicht tun. Sein großes Plädoyer ging dahin, dass ein jeder die Freiheit haben müsse, persönliche Entscheidungen unbehindert durch äußeren Eingriff nach Gusto zu treffen. Schon damals wurde ihm vorgerechnet, dass die Unterscheidung nicht wirklich trennscharf sei. Sie funktioniert in einem Staat, dessen Mitglieder sich allein zu dem Zweck zusammengeschlossen haben, jene Gefahren abzuwenden, die von außen drohen oder aber von seinen Bürgern gegeneinander.

Das war der Gedanke, dem alle freiheitlichen Staatstheoretiker, von John Locke bis zu Montesquieu und den Autoren der Federalist Papers, Ausdruck gegeben haben. In einem Staat hingegen, der sich das Glück, die Wohlfahrt seiner Bürger zum Ziel setzt, ist die Unterscheidung hinfällig, weil er ein System von Interdependenzen erzeugt und pflegt, in dem jede noch so private Handlung das Ganze berührt. So war es in den sozialistischen Staaten, und es scheint, als wären wir nicht weit davon entfernt - mit dem Unterschied freilich, dass dort für die relative Wohlfahrt auch der untersten und schwächsten Mitglieder gesorgt war. Für die nämlich ist Freiheit zumeist eine Schimäre. Nur dem kann sie nützen, der sie zu nutzen weiß. In den Genuss der Meinungsfreiheit zum Beispiel kommt nur, wer eine Meinung hat und sie begründen kann. Das aber heißt: Freiheit ist zuallererst die Freiheit nichtkonformen Verhaltens. Mill nennt es "exzentrisch". Sein Plädoyer für die Freiheit richtet sich sowohl gegen die Tyrannei des Staates als auch gegen die der Gesellschaft, "gegen die Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens", gegen ihre Tendenz, "die Bildung jeder Individualität, die nicht mit ihrem eigenen Kurs harmoniert, zu verhindern." Diese Tyrannei kann nur der empfinden, der Individualität erstrebt.

Vielleicht liegt darin ein weiterer Grund für das schwach ausgeprägte Freiheitsbedürfnis in den meisten westlichen Demokratien. Wessen Lebensziel hauptsächlich darin besteht, sich einem idealen Durchschnitt, wie ihn die Konsum- und Kulturindustrie definiert, sorgsam anzunähern, für den ist Freiheit vor allem die des Habens und Teilhabens. Und wem die eigene Besonderheit als ein Quell lästigen, kläglichen Alleinseins erscheint, der neigt nicht dazu, seine Intimität zu schützen, und er sieht kein Problem darin, private Daten in den Kreislauf der Waren und Dienstleistungen einzugeben.

Die neuerdings beliebte Rede von der Eigenverantwortung aber führt doppelt in die Irre. Einerseits verdeckt sie, worum es in der Tat geht: um die Minderung sozialstaatlicher Fürsorge. Andererseits entlässt sie diejenigen, die nun für sich selber sorgen sollen, keineswegs in das Reich schöner Selbstentfaltung. Im nach wie vor unentwirrbaren Dickicht der Verordnungen findet sich der sozial Schwache und gering Gebildete am schlechtesten zurecht. Seine Freiheit gleicht der eines Behinderten, den man von den Fesseln des Rollstuhls befreit.

Auch das hat Wilhelm von Humboldt schon bemerkt: dass Freiheit und Bildung einander bedingen. Und vielleicht hat beides miteinander zu tun: der Rückgang des individuellen Interesses an Freiheit und der Niedergang der Bildungsinstitutionen, sowohl im öffentlichen Ansehen wie in ihrer Selbstwahrnehmung.

Freiheit und Bildung sind kein unveränderlicher Besitz. Das merken wir jetzt, da sich der Westen aufmacht, die Verheißung der Demokratie in andere Kulturen zu tragen, während zugleich die eigene Demokratie in Gefahr steht, ihre Gründungsidee aus dem Auge zu verlieren: die Freiheit.

2 Kommentare:

  1. Hi, sehr guter Artikel, scheue dich nicht, in Zukunft mehr davon zu posten. Leider ist die "Zeit" mit ihrem Zeitungsformat unhandlicher als der "Spiegel"... :-)

    -kuno

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