Auf der Rückfahrt von der diesjährigen Deutschen Debattiermeisterschaft, über die noch in vielerlei erfreulicher Hinsicht zu bloggen sein wird.
Doch die Stimmung sinken und schwelen lässt der Zug, in dem es keine Klimaanlage gibt, die Toiletten überlaufen und die Menschen sich bis in die Durchgänge hinein die Beine plattstehen. Neben mir sitzt ein Ehepaar mittleren Alters, und zuerst fällt mir die Frau auf: Ihre blumig bunte Bluse hängt an ihrem molligen Leib wie verzweifelt fröhlich an einen Gekreuzigten gehängte Christbaumkugeln. Ihr Blick scheint ständig flüchten zu wollen, weit, weit weg. Ihre Stimme klingt mehrfach gebrochen, und ihre Haltung ist unterwürfig wie die des gemeinsten Sklaven. Als sie ihrem Mann eine Brezel reicht, sehe ich, warum.
Er hat das knorrige und verbrauchte Gesicht eines Hirten, der in den unerbittlichsten Bergen lebt, und die passende Kleidung dazu. Die latente Aggression eines verwundeten Tieres spricht aus jeder seiner fahrigen Gesten, und seine große Nase leuchtet rot. Als er und seine Frau bei einem Halt für eine Zigarettenlänge aussteigen, weist er den jungen, informatisch angehauchten Mann mir gegenüber an, ihre Plätze besetzt zu halten. Dennoch setzt sich ein zugestiegener, pubertierender Schwarzer auf den Platz des Mannes und lässt sich auch durch wiederholte Ermahnung nicht vertreiben. Ich bin drauf und dran, dem Informatiker beizustehen, aber mehr noch möchte ich in meiner sittenlosen Neugier durch diesen fast idealen Versuchsaufbau erfahren, ob der Hirtenmann ein Schläger ist oder nur ein Säufer, so wie man auch an Verkehrsunfällen nicht vorbeifahren kann, ohne nach den Opfern zu gaffen.
Die Frau schleicht sich in ihren Sitz zurück und versucht in angstvoller Erwartung des Kommenden unsichtbar zu werden, der Hirte kommt vom Leben gebeugt angeschlurft, sieht den Pubertären, und wie erwartet nimmt die Konfrontation ihren lehrbuchhaften Lauf, nach weniger als einer halben Minute ist die erste rassistische Beleidigung gefallen. Fast habe ich meine Antwort, da springt ein Schwarzer in den Dreißigern von hinten auf, befiehlt dem Jungen, sich umzusetzen, beschimpft den Hirtenmann als Alkoholiker, den er bis zu sich riechen könne, als Versager, der saufe und saufe, während er, Bannerträger des preußischen Geistes, arbeite und arbeite.
Wie so oft in seinem Leben zerschmettert setzt sich der Hirtenmann, und seine Frau sieht in die Ferne. Ich kann mein schlechtes Gewissen der Untätigkeit später etwas besänftigen, indem ich ihm, als er zu einer beleidigten und rassistischen Revanchetirade anhebt, unsanft übers Maul fahre, aber am Ende, als ich, angekommen, aussteige, bleibt nicht Wut, sondern nur Mitleid, ohnmächtiges Mitleid.
Zu sehen, bis aufs soziale Atom hinab und mit nobelpreisreifer Vorhersagekraft scharf zu sehen, und doch nichts ändern zu können, im Gegenteil, durch das, was in dieser Situation zu tun war, das Elend noch fortzutreiben, warum trinkst Du, weil ich mich schäme, und warum schämst Du Dich, weil ich trinke, das heißt Ohnmacht des Mitleids, das heißt Macht der Sucht.
Ich denke noch lange an die mitgefangene Frau.
Wollte, die Welt wäre anders.
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Schöner Artikel.
AntwortenLöschenTja, Andi, so ists halt im Leben. Schon im Mikrokosmos tun sich die makroskopische Abgründe auf.
Es ist halt ein viel zu weites Feld...
Wie dem auch sei, ich attestiere dir für diesen Text, einen verbesserten Schreibstil, ist mir so spontan aufgefallen. Das kannst du einrahmen ;)
Ich finder der Schreibstil war schon immer top, hier erreicht er aber wieder einen einen noch topperen Höhepunkt.
AntwortenLöschenGrüße
Ich bin kein mieser bilderklauender Dieb, sie Arsch!
AntwortenLöschenIn der Hoffnung, dass es diesmal funktioniert:
AntwortenLöschenGott, ist das gut.
Und diesmal auch in allgemeinverständlichen Sätzen artikuliert. Zehn Verbeugungen vor Deiner Beobachtungsgabe und Deinem rhetorischen Feingefühl.
In der Situation versagt, im Nachhinein wirklich bestechende Formulierungen dafür gefunden... gratuliere!
AntwortenLöschenIch schaff oft nur die Hälfte.
Crazy Geschwätz hier! 8-P
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