Vielleicht müssen wir auch nochmal über den hier zuerst erwähnten und da reloadeten ersten Punkt hinaus über den zweiten nachdenken.
Es ist gut, dass heute weit weniger Menschen sterben und leiden als zu jeder früheren Zeit. Es ist prima, dass Autofahren nicht mehr heißt, in seinem brennenden und zermalmten Wrack jämmerlich krepieren zu müssen. Es ist klasse, dass seine Frau zu vergewaltigen und seine Kinder zu verprügeln uncool geworden ist. Es ist großartig, dass man tatsächlich 300 Kilo schwer werden kann und länger als eine Stunde überleben, kurz, es ist wunderbar, sich aus dem vom eigenen Schweiß versalzenen Acker zu erheben und seine Flügel zu entfalten.
Doch dieselbe Wissenschaft, dieselbe Wirtschaft, dieselbe Gesellschaft, die diesen Aufschwung möglich gemacht hat, erweckt Ansprüche. Plötzlich will keiner mehr drei Stunden für einen winzigen und harten Laib Weizen mit 22 Prozent Mühlstein anstehen. Plötzlich will keiner mehr sein ganzes Leben mit einem schlagenden und saufenden Mann verleiden. Plötzlich will keiner mehr im Café von einer Bombe zerrissen werden. Keiner mehr die salzige Erde zwischen seinen Zehen spüren.
Kurz, plötzlich will keiner mehr sterben.
Und dieselbe Wissenschaft, dieselbe Wirtschaft, dieselbe Gesellschaft, die uns Flügel gegeben hat, tut alles, um uns in der Luft zu halten, und sei es, dass die Aufhängungen immer tiefer in unser Fleisch schneiden, sei es, dass wir immer kräftiger schlagen, sei es, dass wir mehr und mehr von uns in unsere Flügel geben müssen, um zu fliegen um des Fliegens Willen, unfrei und unlebend.
Aber ein Flug ist nur schön, wenn es einen Boden gibt.
Ein Leben hat nur Bedeutung, wenn es endlich ist.
Die conditio humana ist der Tod.
Und weil er das ist, kann man nicht vor ihm davonfliegen, ihn nicht verneinen und nicht verdrängen, im Gegenteil macht jeder solche Versuch ihn nur schrecklich, wie Ikarus erst erkannte, als das Meer seine Schreie erstickte und seine Tränen verschlang.
Daedalus aber starb steinalt und in erdenem Frieden mit offenen Augen, ein Lächeln auf seinen greisen Lippen, endlich mit seinem glücklosen Sohn vereint zu sein.
Haben wir die Weisheit, weniger zu sein wie Ikarus.
Haben wir den Mut, mehr zu sein wie sein Vater.
Begrüßen wir den Tod, wenn er kommt.
Den Schenker von Leben.
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