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26.07.2008

Ausgewählte Ärgernisse

Wann immer ich in einem Zug oder in einem Flugzeug auf eine zurückgelassene Zeitung oder Zeitschrift treffe, muss ich sie aufheben und von vorne bis hinten lesen, ob es die "Glamour" ist oder die "Bäckerblume", ich kann nicht anders, wenn man mich zu Tode foltern will, muss man nur Monitore mit ständig wechselnden Texten um mich herum aufbauen. Doch das ist okay, immerhin sterbe ich dann gut informiert.

Aber fuck, ist die "Welt" reaktionär. Fuck.

Nacktfotos von Models, Pamela und Mapplethorpe sind pornographisch. Die glücklich verheiratete Entenmutter Schiffer leidet nicht unter "Emanzipationspanik". Doch Frauen entwickeln nach Gesprächen mit ihren Freundinnen gerne lächerliche Moralpaniken.

Ach so, das war übrigens alles in einer Ausgabe. Aber aus welchem Jahr?

Apropos 1958, der "Comedian" Mario Barth hat vor kurzem 70.000 Zuschauer ins Berliner Olympiastadion gezogen.

Fuuuuuuck. Ich meine, fuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuck.

Als der Führer dort aufgetreten ist, hatte er wenigstens Niveau. Und Pointen. Und hat was Neues gesagt. Sicher, die Neuigkeiten hatten viel mit tyrannischer Weltherrschaft zu tun, und die Pointen handelten meistens von Juden und Bolschewiken oder auch mal von jüdischen Bolschewiken oder bolschewistischen Juden, und das Niveau war das aktuelle der Reichswehrtechnik, aber ist das nicht trotzdem besser, auf böse Weise sinnvoller, erfüllender, anregender, als einem Berliner Hanswurst beim Recital der ältesten Klosprüche und dümmsten Vorurteile zuzujubeln? Huhuhahaha, Schwarze und Weiße sind so verschieden! Brahahaha, wir werden uns nie verstehen! Hehehe, die fressen immer Wassermelonen!!

Disclaimer für meine Kanzlerkandidatur: Der vorhergehende Absatz stellt keine Befürwortung des "Dritten Reiches" dar. Aber eine bestimmt justiziable Verunglimpfung Mario Barths. Was ist schon ein richtiger Kanzlerkandidat ohne ein cooles Outlaw-Image?

Der hier, das ist ein Komödiant, der den Namen verdient. Nur ein Mann und ein Mikro, aber unendlich witzig, unendlich erfüllend, unendlich anregend, Weißclown und August in einem, den ganzen Widersinn und alle Unmenschlichkeit der conditio humana in nur zwei, drei Sätzen sezierend. Warum ist George Carlin gestorben, und Barth lebt??

Schließlich: Dieser Werbespot macht die Runde, und ich habe damit die Gelegenheit, wieder aktuell zu sagen, was mich am Phänomen Paul Potts stört.

Er kann nicht besonders gut singen.

Sicher, für die Amateuroper von Bath reicht es, und das soll keine Herabwürdigung sein, dieser Autor trifft beim Singstar noch nicht mal auf "Einfach" die Töne, aber Potts ist eben kein besonders guter Opernsänger, so wie die Stuttgarter Kickers auch keine erstklassige Fußballmannschaft sind, seufz. Dass das Publikum im Studio und vor der Glotze in gänsehäutige Verzückung gerät, ist daher nur zu einem Teil ihm anzurechnen, zum größeren Teil aber Puccini und Adami/Simoni, deren Töne und Worte den modernen, klassikentwöhnten Zuhörern, die etwas erstaunlicherweise selbst eine der ausgeleiertesten, unter anderem ausgiebig von einem gewissen Luciano Pavarotti bearbeiteten Arien wie "Nessun dorma" nicht zu kennen scheinen, offenbar wie Himmelsbrote schmecken.

Aber so klingt Puccini halt. Und er ist jetzt auch schon fast 84 Jahre tot, Zigarren Kette zu rauchen macht zwar eine dicke Hose, aber ein kurzes Leben. Und seine Opern und Arien wurden und werden nicht gerade selten gespielt, um es vorsichtig zu formulieren, hell, selbst das deformierte Bastardkind von Gilbert und Sullivan, also das Musical, spielt in "Miss Saigon" nur "Madama Butterfly" und in "Rent" "La bohème" nach (und das schlecht), Andrew Lloyd Webbers großzügige "Inspiration" des "Phantom of the Opera" durch "La fanciulla del West", überhaupt seines gesamten Gesamtwerks durch den Maestro nicht zu vergessen. Es ist auch nicht so, als ob das alles Geheimwissen wäre und als ob man Opern nur auf Grammophonwalzen kaufen könnte.

Was also beklatschen die Pottsfans anderes als ihre eigene Ignoranz?

Was verkauft die Telekom anderes als eine leidliche Kopie eines Monet an ein Publikum, das noch nie ein Gemälde gesehen hat, während woanders zehn Picassos verhungern?

Und muss man solche Travestien der Kulturgeschichte in der vagen Hoffnung gutheißen, dass sich ein oder zwei Kabelfernsehzuschauer einmal in ein echtes Opernhaus verirren? Sind die Mittel, solange der hehre Zweck der Kulturförderung verfolgt wird, also egal?

Na, vielleicht.

9 Kommentare:

  1. Jede Menge guter Links, mercie beaucoup !

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  2. Bei den letzten Beiträgen hatte ich nichts zu sagen, was heißt, vor allem nichts zu widersprechen. Nicht, dass Du Dich wunderst, dass ich immer nur meckere, wenn ich hier was von mir gebe.

    Im aktuellen Fall:
    Ich kenne Deinen Fluch... jedes Zettelchen muss ich lesen, typisches Suchtphänomen. Wobei ich nicht mal behaupten würde, dadurch immer "informiert" zu werden, vgl. die Differenzierung im Slogan "overnewsed and underinformed", die den heutigen Menschen ja oft gut beschreibt.
    Die Welt reaktionär... ach, würde ich nicht unbedingt sagen. "Konservativ" im negativen Sinne, ja. Der Unterschied: Sie versucht nicht, ein Weltbild wiederherzustellen, dass schon (im Diskurs) überholt ist, sondern bekräftigt eines, das überholt sein sollte. Anders gesagt: Wäre unsere Gesellschaft weiter, dann wäre das selbe Blatt reaktionär. Schön wär's - aber dann würde vermutlich auch M. B. nicht einmal die Kleinkunstbühne Hintertupfing voll kriegen. Süße Träume...

    Was Potts angeht: Netter Link, aber warum hast Du den schönsten Teil davon, das "Stendhal syndrome" nicht referiert? Das erklärt nämlich noch besser als "Puccini" die Faszination.
    Wobei ich (ausnahmsweise vom Fach) auch nicht zustimmen kann, dass Potts "nicht besonders gut singen" könnte. Ein lapidares "so klingt Puccini halt" kommt einem natürlich leicht über die Lippen (respektive Finger), wenn man sich selbst in die "eh-nicht-Singen-Könner"-Schublade steckt und damit von jedem Neidverdacht befreit. Aber "so klingt Puccini halt" eben nicht immer - und wer's nicht glaubt, toure durch Klassenvorsingen an Musikschulen, durch Konzerte an Musikhochschulen und so weiter. Klar: Mit Mikro ist einfach Beschiss und es gibt genügend Leute, die einfach noch bessere Tenöre sind, aber: "nicht besonders gut" ist was anderes.

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  3. "Nicht besonders gut" ist vielleicht übertrieben, an der Amateuroper muß man wohl schon singen können, aber er ist halt kein großer Könner. Die Kickers stecken sicher auch jeden Dorfverein in die Tasche, aber sie sind nun mal nicht erstklassig...

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  4. ich finde ehrlich gesagt nazi/ns/ hitler vergleiche reaktionär! wieso hast du immer diese manie jeden scheiss mit den zeiten eines gewissen adolf h. zu vergleichen?! das ist sowas von reaktionär und sollte endlich mal jedem zum hals raus hängen! wieso kommt man in deutschland mal nicht damit klar? es nervt einfach nur noch und ist irgendwie unangebracht...

    zu dem opernthema: nicht jeder ist so "intellektuell" wie du. so what? muss man opern mögen?- nein!und dann kommt da halt so ein typ daher, den plötzlich alle toll finden und der lange nicht mit pavarotti und co vergleichbar ist...na und? wieso unterstellst dud en leuten eine gewisse "ignoranz"? ist es nicht besser menschen an picasso durch ein monet replikat heran zu führen, als gar nicht?
    ich glaube, es ist ein falscher ansatz die gesellschaft in die kabelfernsehwelt und die "ach so intellektuellen" zu unterteilen.

    was hast du mehr geleistet als der 0815 bauarbeiter, der sich in deinem alter schon den rücken krumm gearbeitet hat? ist kultur und bildung das einzige was in unserer gesellschaft von bedeutung ist? ich glaube nicht. denk mal drüber nach! wir hören uns..
    deine sis

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  5. He, meine geliebten Nazivergleiche!

    Am Ende schreibe ich doch "Na, vielleicht" zur Kulturförderung durch Amateure. Aber es bleibt trotzdem, daß einer viel Ruhm und Geld dafür erntet, was viele andere täglich viel besser können. Ist das gerecht? Die "Drei Tenöre" waren wenigstens fähig...

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  6. "Gerechtigkeit" als Proportionalität von Erfolg zu Fähigkeiten ist nicht zu erreichen, da diese Fähigkeiten nicht objektiv bewertet werden können. Dass die drei Tenöre fähig waren, würden hier (schreibe aus der Musikhochschule) auch wieder genügend bestreiten...
    Das krasse Missverhältnis vom Effekt öffentlicher Aufmerksamkeit und tatsächlichen Fähigkeiten ist ein Problem. Stimmt.

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  7. Ich wollte ja schon fast schreiben, daß die "Drei Tenöre" halbwegs fähig waren, weil Pavarotti ab den Neunzigern nicht mehr war, was er mal war, und Domingo vielleicht nie war, was er mal war, aber dann hab ich's gelassen, weil ich nicht noch elitärer erscheinen wollte :-P

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  8. naziwitze und -vergleiche sind scheiße ;-/

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