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11.09.2021

Osama bin Laden hat gewonnen

World Trade Center

Ich erinnere mich noch gut an den 11. September 2001.

Zu jener Zeit war ich tief in der unglücklichsten Verliebtheit meines Lebens versunken und dämmerte oft lange und traurig im Bett, ehe ich mich seufzend hinausrollte. Einmal an jenem in New York so klaren Dienstag aufgestanden, torkelte ich zum Fernseher und sah, ich glaube doch live, wie United Airlines 175 in den Südturm des World Trade Centers flog. Später traf ich mich mit Freunden bei ihnen, um gemeinsam CNN zu schauen, wie von Krieg Betroffene, die wissen möchten, wo heute die Front verläuft. Selbst von dort versuchte ich sie anzurufen, doch sie nahm nicht ab, und als ich auflegte, schaute ich neidisch und wehmütig auf einen Freund, der sich eng mit seiner Freundin zusammengekuschelt hatte, beide erschrocken und ängstlich Wolf Blitzer lauschend. Das kleinste persönliche Drama und das größte historische Ereignis seit dem Mauerfall in einem, eine solche wie außerirdische, scheinbar nicht einzuordnende Disruption der eigenen Kreise, so dass man wie blöde erstmal auf diese Kreise fixiert bleibt, weil sie, wenn auch unglücklich machend, wenigstens bekannt sind, und so doch auch am äußersten Rand noch die Wellen zu spüren, die diese Tat schlug, ist das nicht genau Terror, also Furcht, also Schrecken, also Verwirrung, wie beim Schaf, das den Wolf in seine Herde einbrechen sieht und erstmal nur glotzen kann?

Ich will mich damit natürlich nicht als ein Opfer von 9/11 hinstellen, den tatsächlichen Opfern und Held:innen ihre Ehre stehlen oder auch nur behaupten, dass sich mein Leben durch diesen Tag signifikant geändert hätte, Gott bewahre nein; nur an meinem Beispiel versuchen, begreiflich zu machen, was Terrorismus ist, was er will und kann und bewirkt. Und auch, was er nicht ist.

Viele Jahre später, 2016, fast in einem anderen Leben, habe ich mit meiner Frau auf unserer Hochzeitsreise das 9/11 Memorial & Museum besucht. Ich weinte an den Becken des "Reflecting Absence"-Mahnmals angesichts der tausenden ganz normalen Opfer, Menschen wie Du und ich, die einfach nur an einem klaren Dienstagmorgen zur Arbeit gegangen oder zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Die Hagiographie der Feuerwehrleute und Polizist:innen jedoch und Artefakte wie die "Treppe der Überlebenden" und ein beschädigter Drehleiterwagen waren zwar berührend, aber wirkten auch vage verzweifelt, ein Ringen nach Bedeutung und Narrativen im Chaos der einstürzenden Türme, eine Suche nach Orientierung und Gewissheit angesichts des buchstäblich (wie) aus dem Himmel gefallenen Terrors. Und wieder, ist das nicht die Essenz von Terror, also den Boden unter den Füßen wegzuziehen, die gefühlte Sicherheit zu zerstören, für immer namenlose Angst einzupflanzen?

Ja, Osama bin Laden ist schon mit 54 Jahren gestorben. Aber bis dahin konnte er ein nach seinen Maßstäben erfülltes und erfolgreiches Leben führen und objektiv ein epochales historisches Ereignis organisieren. Im Dezember 2001 konnte er glücklich den Amerikanern in Tora Bora entkommen und so wahrscheinlicher Folter entgehen. Seine letzten Jahre hat er mit seiner Familie, Coca-Cola und Pepsi und so vielen Videos mit Bugs Bunny und/oder großen amerikanischen Brüsten, wie er nur wollte, in einem großzügigen Neubau in einer Art Prä-Covid-Dauerhomeoffice verbracht. Wenn wir uns bin Laden im Moment seines Todes nicht als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen, so doch mutmaßlich als einen, der mit sich im Reinen war, der im Großen und Ganzen erreicht hatte, was er erreichen wollte. Der gewonnen hatte.

Man darf nie vergessen, dass Terrorist:innen sehr schwach sind. Sie haben weder das Personal noch das Material oder die Kapazitäten, Ländern wirklich Schaden zuzufügen, das heißt zum Beispiel großflächig vitale Infrastruktur zu zerstören, Millionen Einwohner:innen tödlich zu vergiften oder eine militärische Besatzung aufrechtzuerhalten. Selbst Schwarzer-Schwan-Ereignisse wie 9/11 oder, sagen wir, die Sprengung eines vollbesetzten Parlaments können Ländern nicht ernsthaft schaden, weil diese einfach Gebäude wieder aufbauen und neue Parlamentarier:innen wählen können. Terrorist:innen können nicht direkt die Grundstrukturen, die Verfassungen, die Mentalitäten und auch die Bevölkerungen von Ländern angreifen, weil sie eben so wenige sind und so geringe Mittel haben. Ja, Terrortote sind tragisch, aber das sind infolge betrunkenen Autofahrens Getötete auch, und dort erklären wir nicht einen zwanzigjährigen "Krieg gegen den Rausch", in dem hundertmal mehr Menschen sterben als durch betrunkenes Fahren und für den wir Gesetze erlassen, dass man nur noch mit einem Polizisten auf dem Beifahrersitz losfahren dürfe.

Zu solchen Überreaktionen kommt es, weil Terrorismus indirekt doch auf unsere Grundstrukturen und Werte zielt, gleichsam über Bande. Er bricht wie der Wolf in unser Leben ein und macht uns namenlose, desorientierende Angst. In unserer Panik und unserem Trauma schlagen wir wild drauflos und vergessen uns selbst, um die Angst zu beherrschen und uns an denen zu rächen, die uns terrorisiert haben, oder zumindest an verfügbaren Sündenböcken. Und so merken wir in unserer Raserei gar nicht, dass wir mit unserer allgegenwärtigen, das essentielle Grundrecht der Privatsphäre schwer verwundet habenden elektronischen Überwachung und zunehmenden Polizeistaatlichkeit, mit unseren maximal halb durchdachten, in der Regel in Schmach und Schande endenden militärischen "Anti-Terror"-Interventionen und mit unseren Verdächtigungen und Gewalttaten gegen Muslime, aber auch z.B. Turban tragende Sikhs in unserer Mitte, genau das tun, was der Terror will. Dass wir unsere Grundrechte aufgeben und sie so als bloße Heuchelei entlarven. Dass wir unsere militärische, politische und diplomatische Stärke in ungewinnbaren Konflikten vergeuden. Dass wir unsere Gesellschaften so polarisieren, dass den Terrorist:innen das Rekrutieren viel leichter fällt: Siehst Du, in Wahrheit haben sie Dich immer gehasst. Wir aber sind für Dich da, Bruder.

Wir machen so, wenn wir dem Terrorismus auf den Leim gehen, sein Geschäft für ihn, viel besser und gründlicher, als er es je könnte. Denn Osama bin Laden wäre nie in der Lage gewesen, zum Beispiel den Patriot Act zu beschließen, die Otto-Kataloge Schilys oder die danach kommenden, unsere innere Freiheit weiter zerstörenden Gesetze. Al-Qaida hätte nie selbst so viele westliche Milliarden und Soldat:innen in Afghanistan vergraben können, wie wir es getan haben. Und 9/11 hätte uns nie so nachhaltig traumatisieren können, wie wir es selbst tun und tun, wenn wir nicht endlich unsere Angst vor dem Terror überwinden und uns darauf besinnen, wer wir sind und was wir haben, das uns nichts und niemand nehmen kann, außer wir uns selbst.

Solange wir das nicht tun, wird der große Gewinner dieses Tages, dieses elften Septembers, für immer nur Osama bin Laden sein.

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