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27.02.2005

Eine Sklavenmutter beschwört ihr Kind

Fast genau eineinhalb Jahre nach Ulrike Marie Meinhofs Berliner Fenstersprung, also Mitte November 1971, hatte ihre Pflegemutter Renate Riemeck sie in einem offenen Brief in "konkret" beschworen, den antiautoritären Aufstand nicht mit dem Anfang einer Revolution zu verwechseln und sie völlig korrekt darauf hingewiesen, dass die Bundesrepublik Deutschland "kein Pflaster für eine Stadtguerilla lateinamerikanischen Typs [ist]. Hierzulande sind höchstens die Voraussetzungen für ein Schinderhannes-Drama gegeben."

Dies war Meinhofs Antwort, "Eine Sklavenmutter beschwört ihr Kind". Und ja, ich weiß, wer Ulrike Meinhof ist. Und dennoch ruft sie zum wahren Handeln in der Situation auf, in der sie sich falsch wahnte. Zitiert aus diesem Buch, Seite 209 f.:

Ulrike, du bist anders als dein Steckbrief, ein Sklavenkind - selbst Sklavin.
Wie also solltest du fähig sein, auf deine Unterdrücker zu schießen?
Laß dich nicht verführen von jenen, die keine Sklaven mehr sein wollen.
Du kannst sie nicht schützen.

Ich will, daß du Sklavin bleibst - wie ich. Ich und du - wir haben gesehen, wie die Herren den Aufstand der Sklaven zerschlugen, noch ehe er begann.
Viele Sklaven sind umgekommen, wir aber überlebten. Sie, die sich heute über die Herren erbittern, wissen ja nicht, welch herrliches Gefühl es ist, noch einmal davongekommen zu sein. Genieße es - denn nichts sonst bleibt uns zu genießen.
Die Revolution ist groß - wir sind zu klein für sie.

Sklavenseelen sind Flugsand, auf den ein Sieg nicht zu gründen ist.
Als du aufwachtest und die Freiheit verlangtest, da hat sie dir niemand gebracht. Warum hast du nicht resigniert - wie andere?

Sieh mich! Ich habe Widerstand geleistet, wenn mich die Herren schlugen - ich schrie.
Doch du erzürnst die Herrschaft, daß sie wieder schlagen möchte. Wer aber wird noch schreien wollen, wenn wir selbst dafür noch mißhandelt werden?
Du bist ein braves Kind. Du bist gar nicht über den Zaun der Herrschaft geklettert, das waren doch die anderen. Sie haben die Hunde aber auf dich losgelassen.
O Kind, du hast etwas Besseres verdient. Was du alles hättest werden können.
Sicher hättest du es zur Aufseherin gebracht.

Siehst du nicht, wie stark die Herrschaft ist? Alle Sklaven gehorchen ihr. Selbst jene, die sich empört hatten und siegten, werden der Herrschaft ihren Sieg zu Füßen legen, damit sie weiter Sklaven sein dürfen.

Die Sklaven hassen jene, die frei sein wollen. Sie sollen dir auch nicht helfen, damit du endlich begreifst, daß deine Rebellion sinnlos ist.
Dein Mut ist herzlos, denn wie können wir vor ihm noch unsere Feigheit verborgen halten? Wenn du auch lieber tot bist als für immer eine Sklavin, so hast du doch nicht das Recht, uns zu beunruhigen.

Ich weiß: du willst, daß wir alle frei werden; aber werden wir uns wohler fühlen?
Den geprügelten Feldsklaven auf den Plantagen in Asien, Afrika und Südamerika, die ihre Aufseher erschlugen, mag Gott vergeben.
Wir Haussklaven haben nicht das Recht, die Herren, die jene Aufseher mit den Ochsenziemern ausschicken, zu verjagen.
Ihr Haus in Ordnung zu halten, ist unsere Pflicht.

Kind, versündige dich nicht. Tu Buße, mag die Strafe der Herrschaft auch fürchterlich sein. Es ist Gottes Wille.
Sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über dich hat.
Ulrike, gib auf!
Verflucht der Gott, der Sklaven zu seiner Zerstreuung schuf.

2 Kommentare:

  1. Vor einigen Tagen bin ich benachrichtigt worden, dass ich den 1. Preis in einem Gedichtwettbewerb gewonnen habe, und zwar mit dem Wiegenlied der Haussklaven, das ich vor 13 Jahren geschrieben habe, inspiriert von Ulrike Meinhofs Sklavenmutter-Brief. Um mein Gedaechtnis aufzufrischen habe ich im Internet nach dem Quelltext gesucht und musste ueberrascht feststellen, dass dies die einzige Webseite ist, in der ihr Brief zitiert wird.

    Fuer alle die es interessiert, hier ist das Gedicht:


    Wiegenlied der Haussklaven


    Wie Flugsand im Wind ist die Sklavenseele,
    und ein Sieg kann auf sie nicht gegründet sein;
    die Revolution, was ich nicht verhehle,
    ist groß, doch wir Sklaven sind dafür zu klein.
    Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein.

    Natürlich, es ducken sich hier die meisten,
    doch Gehorsam heißt nicht, immer stille zu sein:
    es gibt ja auch solche, die Widerstand leisten,
    indem sie beim ausgepeitscht werden laut schrein.
    Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein.

    Doch wir leisten dabei keine Gegenwehr,
    auch wenn wir schon in Versuchung gerieten,
    denn die Herrschaft ist ziemlich autoritär
    und könnte uns gar noch das Schreien verbieten.
    Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein.

    Und liegt dir dein Schicksal auch zu sehr im Magen:
    statt Pläne für einen Aufstand zu schmieden
    ist´s besser, sie höflich nach Freiheit zu fragen -
    und wenn sie dir Nein sagt, dann gib dich zufrieden.
    Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein.

    Du musst ihren Worten bedingungslos traun;
    drum halte dich immer zurück mit Beschwerden
    und kletter der Herrschaft nicht über den Zaun,
    dann wirst du gewiss einmal Aufseher werden.
    Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein.

    Zur Wehr sich zu setzen, wäre barbarisch,
    statt mutig zu sein, lass die Hände im Schoß,
    denn Mut ist Verrat und unsolidarisch:
    er stellt nur die Feigheit der anderen bloß.
    Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein.

    Es gibt manche, die riskieren ihr Leben,
    nur weil sie am liebsten in Freiheit wären.
    Doch würde man uns unsre Freiheit auch geben,
    so bliebe die Frage: wer wird uns ernähren?
    Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein.

    Die Sklaven, die auf dem Feld sind, sie tragen
    ein schwereres Los und es geht ihnen schlecht,
    und wenn sie die Aufseher darum erschlagen,
    so sind sie womöglich sogar noch im Recht.
    Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein.

    Doch gegen die Herrschaft im Hause zu streiten,
    die die Aufseher schickt, das wäre verkehrt:
    wir haben geregelte Arbeitszeiten,
    den Lokus, ein Bett und ein Plätzchen am Herd.
    Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein.

    Drum halte dich ferne von jedem Komplott,
    gehorche der Herrschaft und folg ihrem Ruf,
    und nur in Gedanken verfluche den Gott,
    der Sklaven zu seiner Zerstreuung erschuf.
    Schlaf ein, mein Kind, schlaf ein.

    (frei nach Ulrike Meinhof)

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  2. Ja, ich mußte den Text auch erst mühsam abtippen, da er nirgendwo zu finden war. Deutschland bleibt Internet-Entwicklungsland...

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