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01.10.2006

Deutschlandreise, Teil 1

Der Plan: Um zehn nach einem Glas Milch mit Honig und dem Nachtgebet mit leisem Tschaikowski und den frisch manikürten Händen auf der gebügelten Bettdecke friedlich einschlummern, um zehn Stunden später aufzuwachen und zwölf Stunden später den Zug nach Berlin zu nehmen.

Die Wahrheit: Nach ausschweifendem Gezeche, Gelagen und dem Gewinn und anschließenden sofortigen Verlust von 10.000 Euro und einem Goldzahn in der Spielbank, so zumindest meine undeutliche Erinnerung, zwei Stunden nach Abfahrt des Zuges mit regelmäßig hinter meinen Augen pochenden Vorschlaghämmern erwacht. Langsam berappelt, zum Bahnhof gekrochen und, Spontaneität der BahnCard 50 sei Dank, in den nächsten ICE nach Norden gestiegen.

Ich liebe ja, nicht unbedingt aber auf der ereignislosen Rennstrecke Stuttgart-Mannheim, Bahnfahren, unsere so schnellen wie eleganten und sauberen ICE und die Deutsche Bahn an sich, deren Qualität wir Deutschen, worüber noch zu schreiben sein wird, gar nicht richtig zu schätzen wissen. Das Zugheftchen "DB mobil" jubelt mit mir und versorgt mich mit interessanten Informationen über Hartmut Mehdorns weiße Flaggschiffe: 300 Stundenkilometer! 180.000 Reisende pro Tag! 300.000 verkaufte Märklin-ICE! Ganz berauscht komme ich in Mannheim an und verpasse prompt meinen Anschluss, da mein Flaggschiff zehn Minuten Verspätung hat. So bummele ich, nachdem ich, meiner viel zu spät auslösenden Mobiltelefonkamera sei Undank, vergeblich versucht habe, eine abfahrende Dampflokomotive zu fotografieren, des nächsten Zuges harrend durch den Bahnhof und halte vor der Auslage des lokalen Zeitschriftenladens, in dem eine passionierte Verkäuferin eine Reihe "Emmas" zum Venussymbol arrangiert hat. Folgender Dialog entspinnt sich:

ANDI
(skurril)
Verzeihung, wo finde ich denn die "Emmas"?

VERKÄUFERIN
(zeigt es)
Hier.

ANDI
(sucht)
Aha, hm, die, die ich suche, ist leider nicht dabei.

VERKÄUFERIN
(freundlich)
Welche hätten Sie denn gerne? Ich kann sie Ihnen
aus der Auslage holen, wenn Sie möchten.

ANDI
(schämt sich ein bißchen)
Die mit dem zu frühen Sex.

VERKÄUFERIN
(greift unbeirrt in die Auslage)
Hier die, "Zu früher Sex?"

Zu früher Sex

ANDI
(leicht verlegen)
Ähm, ja genau.

VERKÄUFERIN
(nunmehr an der Kasse)
Sechs fünfzig. Möchten Sie noch eine Autogrammkarte von der Schwarzer?

ANDI
(strahlt)
Ja gerne!

Ein Autogramm von Alice Schwarzer

Neugierig lese ich, nun wieder nach Berlin unterwegs, das Blatt und finde nicht nur wie im Vorurteil bestätigt, dass es vor allem ihr Blatt ist, buchstäblich von der ersten bis zur letzten Seite, inklusive fast schon satirisch suggestiver Interviewfragen ("Sexualität muss ja auch in der Heterosexualität nicht immer der Koitus sein"), eigenem Bushbashing und genießerisch langer Houellebecqbeschimpfung durch Dritte, sondern wie vermutet auch, dass ihr Blatt ein verdammt gutes ist, preaching-to-the-converted-Bonus schon abgezogen. Feine, diverse, tiefe, oft lustige Inhalte, richtige Worte zur richtigen Zeit, interessante Gespräche ... Alice Schwarzers Editorial zu den viel zu früh und in so großer Unwissenheit wie Einsamkeit miteinander vögelnden Kindern bleibt nur hinzuzufügen, dass das darin von ihr gepimpte Dossier sich wirklich zu lesen lohnt. Kaufen, wenn's noch irgend geht!

Zwischen zwei dünnen Würsteln mit einem Mickerbrötchen und Senf für zwei achtzig zerrinnen die Stunden. Endlich Berlin Hauptbahnhof.

Berlin Hauptbahnhof

Germania Welthauptbahnhof, zum Imponieren erschaffen, nur einen Steinwurf von der Großen Halle Kohls Waschmaschine entfernt. Ich weiß nicht, ob ich fliehen oder staunen soll, kaufe erstmal hungrig ein paar Nudeln, doch verspeise sie erst einige Minuten und Meter weiter auf den vertrauten Stufen des Reichstagsgebäudes, sinnloses Geprotze auch es, aber wenigstens nicht so penetrant neo-alles, haha.

Ewig nach der Juhe Mitte suchend, komme ich endlich weit nach Mitternacht an, nur um zu erfahren, dass kein Zimmer mehr frei ist. Der geschätzt über 60-jährige Herbergsvater hilft mir weiter, indem er seinem Kollegen in Tegel auf leicht beunruhigende Weise durchtelefoniert, dass gleich ein "Mann, groß, blond, blauäugig, sehr sympathisch" vorbeikomme, wofür ich schließlich aber doch noch, der Entfernung geschuldet, fast eine Stunde brauche. Todmüde falle ich bzw. quetsche mich ins Guantánamo-Kingsize-Bett und räkele mich auf seiner ganzen Halbmeterbreite, nur um vom konzertanten Schnarchen meiner mittelalten Zimmergenossen aus einer Gruppe reisender Mindersozialisierter bis zum Morgengrauen wachgehalten zu werden. That's Urlaub, Baby!

Fortsetzung folgt ...

6 Kommentare:

  1. Schon mal daran gedacht Reisejournalist zu werden?
    Gefällt mir gut deine kleine Geschichte.
    Aber sag, was wolltest du in Berlin oder habe ich etwas überlesen? Oder gehe ich richtig in der Annahme, dass du einfach nur so durch Deutschland tourst?
    Au révoir mon ami.. (mon grand blonde, trés gentil bébé avec des yeux bleus :)

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  2. Empfehlung! Der werte Herr hat eine Homepage und ich erfahre es erst jetzt?
    Whatever, hier die URL:
    http://www.henryk-broder.de/startseite/startseite.html

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  3. Mehr Erklärungen kommen im nächsten Teil der Deutschlandreise. Kanntest Du Broders Homepage echt noch nicht?

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  4. Mensch Andreas, hättest was gesagt, dann hättest sehr wahrscheinlich in Friedrichshain bei Albi unterkommen können. Andrerseits wäre dann Dein Reisebericht wohl auch nicht so amüsant.

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  5. Ah stimmt, wir haben uns vor meiner Reise ja gar nicht mehr gesprochen. Wirst ihre Ergebnisse halt in den nächsten Folgen erfahren :)

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  6. Ich unterbreche ja nur ungern (nein), aber es stimmt; ich kannte sie noch nicht.
    Bin ja auch noch ein Backfisch.

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